INTERVIEW MIT SUSEN STANBERGER

Geburt und Tod sind das, was uns Menschen miteinander verbindet. Wir alle erleben in diesem Zusammenhang intensive Gefühle: Freude, Angst, Trauer, Wut.

sds19: Möchten Sie unseren Leser*innen kurz von Ihrer Arbeit, Ihrem Leben und Ihrer Lebensphilosophie erzählen.

Ich war seit fast 20 Jahren sehr erfolgreich als Führungskraft in einem internationalen Softwareunternehmen tätig, als 2014 eine einzige Frage mein und das Leben unserer Familie von Grund auf verändert hat.

„Warum soll ich mir die Zähne putzen, wenn ich sowieso ins Gras beiße?“ Diese Frage von dem achtjährigen an Leukämie erkrankten Max war die Initialzündung für unser Buch „Die Grasbeißerbande – Das Sterben wieder ins Leben holen“. Zwei Jahre lang sammelten mein Mann und ich Fragen von lebensverkürzt erkrankten Kindern. Wir wollten wissen, welche Fragen sich Kinder stellen, wenn es um ihren eigenen Tod und ihr eigenes Sterben geht. Die Auseinandersetzung mit den Gedanken der Kinder sowie die vielen Gespräche mit betroffenen Familien und ehrenamtlichen Mitarbeitern im Hospizumfeld haben uns auf eine Reise mitgenommen, für die wir unglaublich dankbar sind. Wir durften erkennen: Das Bewusstsein um die Endlichkeit unseres Daseins hat eine immense Kraft, insbesondere wenn es darum geht, das eigene Leben selbstbestimmt und wertvoll zu gestalten.

Die gewonnenen Erkenntnisse und Impulse wollten wir mit anderen Menschen teilen, aber kein Buch, schlimmstenfalls einen Selbstoptimierungs-Ratgeber, schreiben. Was das Buch für uns so wertvoll gemacht hat, war der Austausch mit anderen Menschen. Also haben wir ein Spiel entwickelt, wir haben es „Die Entdeckung meines Zeitwerts“ genannt. Wir sind damit derzeit in ganz Deutschland unterwegs, um Botschafter zu finden, d. h. Trainer, Coaches, Pädagogen, die es in ihrer Arbeit mit Heran- und Erwachsenen einsetzen.

Die Frage nach meiner Lebensphilosophie lässt sich sehr gut mit einem Zitat von Gerald Hüther beantworten, welches seit einigen Jahren über unserem Familien-Esstisch hängt:    
                        
„Seine Einzigartigkeit gewinnt ein Mensch nicht mehr dadurch, dass er sich von anderen abgrenzt, sondern indem er sich gemeinsam mit anderen entdeckend, gestaltend, sich kümmernd und Verantwortung übernehmend auf den Weg macht und dabei seine individuellen Potentiale entfaltet.
Jeder gehört dazu, alle werden gebraucht.“                    
Prof. Dr. Gerald Hüther
                    
sds19: In welcher Art gestalten Sie die „Stadt der Sterblichen” im Sep 2019 in Leipzig mit?

Als Dr. Angelina Whalley, Chef-Kuratorin von KÖRPERWELTEN, unser Buch „Die Grasbeißerbande“ in den Händen hielt, rief sie uns spontan an und unterbreitete uns das Angebot, für uns eine eigene Grasbeißerbanden-Ausstellung zu entwickeln. Dafür danken wir ihr aus tiefstem Herzen, die Zusammenarbeit mit ihr und ihrem Team hat großen Spaß gemacht. Die Ausstellung zeigt einen Auszug der Bilder und Fragen der Kinder und ist derzeit in Heidelberg und Berlin zu sehen. Im Rahmen von „Stadt der Sterblichen“ kann man sie ab 8. September auch in der Probstei zu Leipzig besuchen. Der Eintritt in die Ausstellung ist kostenfrei. Mit den Erlösen aus Buchverkäufen und Spenden im Rahmen der Ausstellung wird das Kinderhospiz Bärenherz in Markkleeberg unterstützt.
 
sds19: Wie und in welcher Weise beschäftigen Sie sich mit dem Tod?

Er ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit zum Thema Zeitwert. In unserem Denken, Tun und Handeln ist er Damoklesschwert und Geschenk zugleich. Er schafft Bewusstsein für die Qualität unserer Lebenszeit. Für mich ist er Antrieb, die kleinen kostbaren Chancen im Leben zu ergreifen: der Abschiedskuss bevor man in die Bahn oder ins Auto steigt, die Umarmung der Kinder, auch wenn die Nutellafinger sich gefährlich dem weißen Oberteil nähern, ein weiteres Glas Wein mit Freunden, obwohl der Wecker am nächsten Morgen früh klingelt.
 
sds19: Was bedeutet für Sie Endlichkeitskultur?

Das Recht jedes Menschen, Sterben, Tod und Trauer selbstbestimmt und würdevoll gestalten zu können. Bei allem Respekt vor den medizinischen Errungenschaften plädiere ich für eine weiterführende intensive Auseinandersetzung mit der aktiven Sterbehilfe in Deutschland.

sds19: Warum ist es Ihres Erachtens notwendig, dass sich jeder mit dem Leben, Sterben und Tod auseinandersetzt?

Dafür gibt es aus meiner Sicht viele Gründe, ich greife hier mal drei Gedanken auf:

Geburt und Tod sind das, was uns Menschen miteinander verbindet. Wir alle erleben in diesem Zusammenhang intensive Gefühle: Freude, Angst, Trauer, Wut. Eine globalisierte Welt braucht Brücken zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen. Kann es eine Brücke sein zu erkennen, dass wir im „Mensch sein“ tief miteinander verbunden sind? Dass uns der Start und das Ende unseres Lebens eint sowie der Wunsch, die Zeit dazwischen so lebenswert als möglich zu gestalten?

Wir leben wie Joghurtbecher, denen ein Mindesthaltbarkeitsdatum aufgedruckt ist. Ganz selbstverständlich gehen wir davon aus, dass wir das statistische Durchschnittsalter erreichen. Was aber, wenn uns der Tod viel früher einen Strich durch die Rechnung macht? Das Leben auch mal vom Ende zu denken, darin liegt eine enorme Kraft. Sie führt uns in das Spannungsfeld zwischen „Wie sieht meine Realität heute aus?“ und „Wie möchte ich eigentlich leben?“.

Ich selbst war 15 oder 16, als mein Großvater mütterlicherseits starb. Das war der erste mir sehr nahestehende Mensch, der plötzlich einfach nicht mehr da war. Ich erinnere mich sehr genau an die Beerdigung. Ich stand vor dieser riesigen Holzkiste und konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein lieber Opa nun auf ewig dort drin liegen würde. Noch viele Jahre später bin ich zur Wohnung meiner Großeltern gefahren, immer in der Erwartung, mein Opa öffnet mir die Tür. Diese Situation hat mich überfordert und ich habe mir fest vorgenommen, meine eigenen Kinder anders vorzubereiten.
 
sds19: Was kann man Ihrer Meinung nach aktiv tun, damit diese Themen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten?

So oft werden wir gefragt, warum wir uns als nicht betroffene Eltern mit Fragen von kranken Kindern auseinandersetzen. Mitarbeiter in der Hospizarbeit berichten uns davon, wie Menschen sich abwenden, wenn sie von ihrer Arbeit mit den Kindern berichten. Betroffene Familien leiden unter der sozialen Isolation, die mit der Krankheit ihrer Kinder einher geht.

Menschen fürchten sich davor, sich in ihrer Verletzlichkeit zu zeigen. Davor, am Ende des Lebens zu bereuen, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren, das Zepter des Handelns aus der Hand geben zu müssen, plötzlich selbst betroffen zu sein, vor dem Gefühl von Trauer und Ohnmacht.

Ihre Frage betreffend gilt es in erster Linie also, miteinander ins Gespräch zu kommen und Ängste, sowie Vorbehalte abzubauen.  

sds19: Warum ist es wichtig, den Menschen Tod, Sterben und die eigene Endlichkeit näher zu bringen?

Weil durch das Erkennen der eigenen Vergänglichkeit die eine existentielle Frage an unser Herz pocht: „Macht das, was ich gerade tue, und wer und was ich bin, eigentlich für mich einen Sinn?“ Kommen wir durch die Auseinandersetzung mit dieser Frage zu tieferen Einsichten in unsere eigenen Werte, Bedürfnisse und Motive, kann daraus ein mutiger Veränderungsdrang erwachsen, sich der Schlüssel formen zu einer selbstbestimmten Lebensgestaltung und zur wertschätzenden Wahrnehmung des anderen im Mensch-sein.

Abgesehen von dieser gesamtgesellschaftlichen Bedeutung bereiten wir uns in den Gesprächen darüber auch im praktischen Sinne auf das vor, was letztlich unausweichlich ist. Sind die organisatorischen und finanziellen Fragen im Vorfeld hinreichend geklärt, schafft dies im Moment des Abschieds den so wichtigen Raum für Trauer und Verarbeitung.

sds19: Haben Sie Empfehlungen, wie man den einzelnen Individuen in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer, Verlust, Leid, Angst und Schmerz erleichtern kann, um damit einen besseren Umgang pflegen zu können?

Dem Thema nicht aus dem Weg gehen.
Nicht mitleiden, sondern verstehen, was Betroffene wirklich brauchen und dann gezielt helfen.
Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten, besser bezahlen und ihnen ausreichend Ruhezeiten gewähren.
Die Arbeit der vielen ehrenamtlich engagierten Menschen wertschätzen.
Psychologische Betreuung für Angehörige sicherstellen, insbesondere für Geschwisterkinder.
Flächendeckende palliative Versorgung gewährleisten, am besten zu Hause.
Dafür sorgen, dass die Medienwelt weniger sensationsgeil, sondern viel mehr aufklärend berichtet.
Mit Kindern darüber sprechen, sie einbinden, ihnen immer die Möglichkeit geben, sich zu verabschieden.

sds19: Wie können Kunst, Kultur und Bildung ihren Beitrag leisten?

Durch Konfrontation und Aufklärung. Das Feedback zur Ausstellung „Die Grasbeißerbande“ zeigt uns, dass die Fragen der Kinder bei Jung und Alt zum Nachdenken anregen.
In Schulen und Kindergärten begegnen uns vielversprechende Projekte und Initiativen, im Lehrplan für Ethik ist das Thema Sterben und Tod bereits fester Bestandteil.

sds19: Möchten Sie uns Bücher, Filme und/oder Musik zum Thema Leben, Sterben und Tod empfehlen?

Mir kommt spontan ein Film in den Sinn. In „Verborgene Schönheit“ geht es um Gespräche mit dem Tod, der Zeit und der Liebe.

Im Gespräch mit unseren Kindern gab es ein paar wertvolle Begleiter, z. B. „Hat Opa einen Anzug an?“ oder „Und was kommt dann?“ und natürlich „Die Grasbeißerbande“ :-)

sds19: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschen Sie sich für ein besseres menschliches Miteinander?

Ich wünsche mir, dass wir uns wieder mehr besinnen auf das, was uns als Menschen ausmacht und unser (Über-)leben sichert. Wir haben dieses Wesentliche aus den Augen verloren, uns zu sehr treiben lassen von Konsum, Status, Selbstoptimierung. Auf Kosten der Ärmsten dieser Welt, unserer Gesundheit und auf Kosten unseres Planeten. Nicht nur unsere Lebenszeit, auch unsere Ressourcen sind endlich.

sds19: Was bedeuten für Sie Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Oft erschließt sich die Bedeutung von etwas erst durch einen Mangel desselben. Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe einen persönlichen Bezug dazu. Es ist unsere Aufgabe, den nachfolgenden Generationen mitzugeben, für diese Werte ein- und aufzustehen.

sds19: Welches ist Ihr Lieblingszitat zum Thema Leben, Schmerz und Tod?

„Hast Du schon genug geliebt, Papa?“ (Moritz, 6 Jahre)

sds19: Zum Schluss möchten wir Sie noch bitten, folgende drei Sätze mit Ihren Worten zu ergänzen:
 
1. Eines Tages werde ich sterben,
und das ist gut so.
 
2. Unsterblichkeit wäre
... nicht erstrebenswert.
 
3. Das Leben ist
… wertvoll, vor allem, wenn man es nach seinen individuellen Bedürfnissen und Lebensplänen selbst gestalten kann.