INTERVIEW MIT ANDREAS DOHRN

sds19: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit, deinem Leben und deiner Lebensphilosophie erzählen.

In den Leipziger Süden, an die Peterskirche sind meine Frau und ich vor sechs Jahren als Pfarrerin und Pfarrer in eine geteilte Pfarrstelle gekommen. Wir fühlen uns mit unseren beiden Kindern sehr wohl hier. Das liegt am Potenzial der Menschen, die wir jeden Tag treffen.
In meiner ehrenamtlichen Zeit bin ich an folgenden Stellen aktiv:
- die „Kontaktstelle Wohnen“, mit der Geflüchtete aus Gemeinschaftsunterkünften in dezentrale selbstbestimmte Wohnräume umziehen
- die Wohnungsgenossenschaft „Sowo Leipzig eG“
- die Partei „Bündnis 90 / Die Grünen“
- die „Stiftung Ecken Ecken“ im Projekt „Depot“, eine Sharingplattform

Der Kontakt mit Sterbenden, Beerdigungen und die Begegnungen mit Trauernden ist sehr wichtig im Alltag als Pfarrer. Seit 2008 bin ich im Erzgebirge beim Aufbau des Palliativnetzwerkes aktiv, habe lange Jahre in der Fortbildung von Fachkräften in der Palliativpflege mitgemacht und bin seit neun Jahren der Coach von Hauptamtlichen eines in der Palliativpflege stark engagierten Pflegedienstes im Zwönitztal. Im Erzgebirge war ich viele Jahr lang als Notfallseelsorer aktiv, d. h. in der Begleitung von Menschen, die der Tod in Extremsituationen schockiert hat.


sds19: In welcher Art gestaltest du die „Stadt der Sterblichen” im Sep 2019 in Leipzig mit?   

Im Jahr 2019 ist die Peterskirche erstmalig als Raum-gebende Organisation mit am Start. Wir sind sehr gespannt auf die Veranstaltung. Das Format „Stadt der Sterblichen“ halten wir für innovativ, ungewöhnlich und sehr am Puls der Zeit.


sds19: Wie und in welcher Weise beschäftigst du dich mit dem Tod?

Dienstlich beschäftige ich mich oft mit dem Tod. Bei trauernden Familienmitglieder spüre ich oft die Überforderung im Umgang mit dem Tod. Gesellschaftlich haben wir es aktuell mit einer Armut an kulturellen Formen im Umgang mit dem Tod zu tun. Innovative Formen der Trauer (z. B. hat ein Leipziger Beerdigungsunternehmen aktuell ein Trauerhaus eröffnet) werden zur Zeit eher in gewerblichen als in kirchlichen Kontexten entwickelt – das finde ich sehr erstaunlich.


sds19: Was bedeutet für dich Endlichkeitskultur?

In Ostdeutschland, in Leipzig leben mehrheitlich Menschen, die atheistisch geprägt sind. In vielen Alltagssituationen werden also Sprachbilder und Gleichnisse im Umgang mit Sterben und Tod gewählt, die selbstverständlich von der Endlichkeit ausgehen und auch von der absoluten Tödlichkeit des Todes. Deshalb kommt in meinen Beerdigungsansprachen immer der Satz vor, dass ich den Angehörigen wünsche, dass sie eine Hoffnungsperspektive entwickeln, die stärker ist als der Tod.


sds19: Warum ist es deines Erachtens notwendig, dass sich jeder mit dem Leben, Sterben und Tod auseinandersetzt?

Ganz einfach. Der Tod ist das einzige, mit dem sich alle Leipziger*innen eines Tages zu beschäftigen haben. Das betrifft das eigene Sterben und das betrifft das Sterben von eng vertrauten Menschen und das betrifft das Sterben, das bei öffentlichen Katastrophen zu betrauern ist.


sds19: Was kann man deiner Meinung nach aktiv tun, damit diese Themen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten?

Bei Kindern ist es wesentlich, dass für sie Sterben und Tod in direkten Begegnungen vorkommt. Also: Kinder mitnehmen ins Krankenhaus, zu Besuchen, zu Beerdigungen und bitte nicht „schützen“ vor Begegnungen mit „Sterben“ und „Tod“. Für Jugendliche ist es als Trauernde und als Schüler*innen extrem schwierig, da Zugänge zu finden (evtl. wäre es spannend, Jugendliche die selbst einen heftigen Tod intensiv verarbeitet haben, zu Botschafter*innen auszubilden, die andere Jugendliche ansprechen). Bei Erwachsenen wünsche ich mir eine Intensivierung der eigenen Aktivitäten bei konkreten Beerdigungen.


sds19: Warum ist es wichtig, den Menschen Tod, Sterben und die eigene Endlichkeit näher zu bringen?

Ohne Vorbereitungen sind Sterben und Tod so herausfordernd, dass schnell eine Überforderung eintritt. Viele Menschen in Leipzig sind langfristig durch Sterben und Tod traumatisch gebunden mit heftigen Wirkungen in allen Lebensbereichen: Das sind verwaiste Eltern, verwaiste Geschwister, Geflüchtete aus Kriegsgebieten ...


sds19: Hast du Empfehlungen, wie man den einzelnen Individuen in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer, Verlust, Leid, Angst und Schmerz erleichtern kann, um damit einen besseren Umgang pflegen zu können?

Oft sind es Freund*innen von Trauernden, die in Gesprächen eine zentrale Rolle beim Trauern spielen. Wer mehrere Monate nach einer Beerdigung spürt, dass das Leben dauerhaft eingetrübt ist, braucht professionelle Unterstützung.  Wir brauchen interdisziplinäre Formate, wo wir unser Know How zusammenbringen: Da ist die „Stadt der Sterblichen“ ein prima Beispiel dafür.

 

sds19: Wie können Kunst, Kultur und Bildung ihren Beitrag leisten?

Auf Sterben und Tod braucht man spezielle, ungewöhnliche Perspektiven und Bilder, um damit gut umgehen zu können. Da sind Romane, Sachbücher, Ausstellungen ein echter Segen.


sds19: Magst du uns Bücher, Filme und/oder Musik zum Thema Leben, Sterben und Tod empfehlen?

Berührt hat mich der Film „Mister May“: www.mister-may.de
„John May ist ein Mensch der besonderen Art: Ein Eigenbrötler, akribisch, zurückhaltend, aber mit einem großen Herz für andere. Mit Engelsgeduld kümmert er sich als „Funeral Officer“ im Auftrag der Londoner Stadtverwaltung um die würdevolle Beisetzung einsam verstorbener Menschen. Selbst für das Schreiben der Trauerreden findet er Zeit und Worte – gehalten auf Trauerfeiern, die nur auf einen einzigen Gast zählen können: Mr. May.“


sds19: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Unser Erbe, dass wir die Schönheit des Lebens weitertragen. Gerechtigkeit ist die zentrale Grundlage für ein besseres menschliches Miteinander.


sds19: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Die Spielräume für Freiheit sind aktuell massiv bedroht durch Rechtsextreme und durch die Selbstzufriedenheit der bürgerlichen Mittelschicht. Es wird höchste Zeit, dass wir unser Engagement hochfahren und klug handeln.


sds19: Welches ist dein Lieblingszitat zum Thema Leben, Schmerz und Tod?

Zum Paradies mögen Engel dich geleiten,
Die Chöre der Engel mögen dich empfangen,
und mit Christus, der für dich gestorben,
soll ewiges Leben Dich erfreuen. Amen.Hymnus


sds19: Zum Schluss möchten wir dich noch bitten, folgende 3 Sätze mit deinen eigenen Worten zu ergänzen:

1. Eines Tages werde ich sterben
… hoffentlich alt & lebenssatt & im Kreis von Familie und Freund*innen.

2. Unsterblichkeit wäre
… für alle Menschen wesentlich.

3. Das Leben ist
… ein langer, lebendiger  Fluss