Interview mit Michael Lindner
sds19: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit, deinem Leben und deiner Lebensphilosophie erzählen.
Ich versuche mich mit meinen Fähigkeiten und Möglichkeiten für soziale Projekte einzubringen, um ihnen in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben. Das mache ich hauptamtlich als Pressesprecher für das Berufsförderungswerk Leipzig sowie ehrenamtlich für verschiedene gemeinnützige Organisationen wie den Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e.V. (VEID), das Clown Museum Leipzig … und alles getragen von und mit der Familie.
sds19: In welcher Art gestaltest du die „Stadt der Sterblichen” im Sep 2019 in Leipzig mit?
Für #sds19 stelle ich Kontakte her. Verknüpfen, um das bestehende Netzwerk mit anderen zusammenzuführen zu einem größer werdenden Netz. Und wenn es in die heiße Phase geht, dann bin ich gern eine helfende Hand.
sds19: Wie und in welcher Weise beschäftigst du dich mit dem Tod?
Es wäre einfach, die Arbeit für den VEID jetzt zu benennen. Ja, da liegt sicherlich ein wichtiger Berührungspunkt. Doch es begann früher. Als ich das Leipziger Elternhaus für Angehörige schwer kranker Kinder leitete. Hier begegnete ich als Vater von drei gesunden Kindern dem Tod. Es waren damals viele Kinder, die ihren Kampf für das Leben gegen ihre Krankheit verloren haben. Da bekam ich Respekt vor den Kindern, die manchmal offen über das „Gehen“ sprachen.
Und jetzt ist es angesichts der Erlebnisse von damals und der Arbeit für den VEID für mich unfassbar, wie es in einer Welt, die sich anschickt mittels hochmoderner Digitalisierung die Welt in die Zukunft zu transferieren, sein kann, dass im Jemen hunderttausende Menschen verhungern müssen, in Syrien und vielen anderen Regionen Menschen Kriegen zum Opfer fallen, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Der Tod ist zur unemotionalen Nachrichtenware geworden. Ihm wird jeglicher Respekt genommen, weil das Leben der vielen sinnlosen Opfer nichts mehr wert ist.
sds19: Was bedeutet für dich Endlichkeitskultur?
Ich habe jüngst im Radio gehört, dass ein Kind sagte: Man ist nicht tot, solange es Menschen und Dinge gibt, die an einen erinnern. Daher glaube ich, dass jeder sich seinen Platz im Leben so einrichten sollte, dass man sich mit Freude an den Menschen erinnern kann. Nicht jeder wird ein Buch schreiben, ein Bild malen, einen Film drehen oder ein Architekturdenkmal errichten können. Doch es reicht, wenn wir freundlich und solidarisch zu unseren Nachbarn sind. Dabei entstehen Augenblicke, die unvergessen bleiben und weitererzählt werden. Diese kleinen -großen Begebenheiten sind wahrlich schöner als Grabstätten.
sds19: Warum ist es deines Erachtens notwendig, dass sich jeder mit dem Leben, Sterben und Tod auseinandersetzt?
Wir sind von Natur aus Lebewesen mit einer sehr geringen Halbwertszeit. Darauf müssen wir uns einrichten. Wir sollten daher das Leben genießen, es auskosten und ausprobieren. Jeder auf seine besondere Art und Weise und immer mit der Achtsamkeit für und auf den Nächsten. Wir werden sterben. Nur wissen wir nicht, wann und wie. Es kann langsam passieren, plötzlich und auch gewollt. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dann begegnen wir dem Leben, unserem eigenem und dem der anderen Leben mit viel mehr Respekt.
sds19: Was kann man deiner Meinung nach aktiv tun, damit diese Themen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten?
Warum ist es wichtig, den Menschen Tod, Sterben und die eigene Endlichkeit näher zu bringen?
Sterben und Tod gehören zu uns. Natürlich wollen wir alle unendlich lange jung und gesund leben. Das ist eine Illusion, die sich nicht erfüllen wird. Im Laufe des Lebens begegnet jeder Mensch dem Tod: Familienmitglieder, Freunde und Kolleg*innen oder auch ein geliebtes Haustier. Wir können dem nicht ausweichen. Daher ist es wichtig, uns von Klein an mit dem Thema zu beschäftigen.
sds19: Hast du Empfehlungen, wie man den einzelnen Individuen in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer, Verlust, Leid, Angst und Schmerz erleichtern kann, um damit einen besseren Umgang pflegen zu können?
Wie können Kunst, Kultur und Bildung ihren Beitrag leisten?
Jeder sucht seinen eigenen Weg der Trauer. Dabei sollten wir die Trauernden begleiten. Petra Hohn vom VEID sagte einmal, man möge wie ein Geländer für die Betroffenen sein. Zum Festhalten, wenn es auf- und abgeht. Wir müssen ihnen Zeit lassen, auch wenn sie keine Wunden über den Verlust eines lieben Menschen heilen wird. Zuhören, seine Schulter anbieten, aber auch Distanz wahren.
Ich würde mich freuen, wenn in der Kita und Schule der Umgang mit der Trauer seinen Raum im Unterricht einnimmt. Nicht nur in Ethik, wenn man auch einmal unterschiedliche Begräbnisstätten besucht, sondern vielleicht im Geschichtsunterricht nicht nur über die Toten von Römischem Reich, Kreuzzügen, Inquisition, Kriegen und Revolutionen als statistische Größen redet, sondern auch hier darauf verweisen kann, was deren Opfer bedeutete und mit welchen Schmerzen der Tod dieser Menschen einhergegangen ist.
Schmerz und Tod sehen wir oft in Bildern wie Guernica von Pablo Picasso oder auf dem Foto vom neunjährigen Napalmmädchen in Vietnam vom Fotografen Nick Út. Über unsere Empfindungen müssen wir mit unseren Kindern sprechen. Vielleicht verschwindet so die Distanz zu den Opfern und manches Computerspiel wird anders gespielt oder erst gar nicht heruntergeladen.
sds19: Magst du uns Bücher, Filme und/oder Musik zum Thema Leben, Sterben und Tod empfehlen?
„Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Dieses kleine Buch ist so großartig, weil es soviel vereint: Entdeckung, Freundschaft, Liebe, Verantwortung, Enttäuschung, Schmerz, Verlust, Tod ... Ich kann es immer wieder lesen, hören oder sehen.
sds19: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?
Da steht für mich an erster Stelle die Sorge um die Umwelt. Dazu zähle ich besonders uns Menschen als Teil des Großen und Ganzen. Wir sollten verantwortungsvoller mit uns und unseren Mitmenschen umgehen. Ich habe unserem Sohn immer nahegelegt, dass er achtsam und umsichtig sein möge.
sds19: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?
Freiheit heißt für mich, dass sich alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihren Neigungen frei in alle Richtungen geistig und physisch bewegen können. Dafür engagiere ich mich. Auf der Straße, auf meinem Blog, auf sozialen Netzwerken und in Gesprächen mit anderen. Es geht um Gerechtigkeit.
sds19: Welches ist dein Lieblingszitat zum Thema Leben, Schmerz und Tod?
„Eine Weltkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient nicht einmal einen flüchtigen Blick, denn ihr fehlt das Land, das die Menschheit seit jeher ansteuert.“ Oskar Wilde in „Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“, Berlin 1904
sds19: Zum Schluss möchten wir dich noch bitten, folgende 3 Sätze mit deinen eigenen Worten zu ergänzen:
1. Eines Tages werde ich sterben,
… und dann mache ich Platz für ein neues Leben.
2. Unsterblichkeit wäre
… wenn man über mich noch in hundert Jahre eine kleine gute Episode erzählen kann.
3. Das Leben ist
… das wertvollste Gut auf der Erde, das es zu erhalten gilt und das durch niemanden gegen den ausdrücklichen und bewussten Willen verletzt oder beendet werden darf.