INTERVIEW MIT HOLGER KULICK

Friedhöfe zum Leben erwecken! Erzählt mehr Geschichten über die Menschen, die dort liegen, macht Kinderexpeditionen zu Gräbern ...

Interview mit Holger K.
Autor, Journalist, Überlebenskünstler

sds19: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Lebensphilosophie erzählen?

1. Du sitzt immer in der Scheiße, nur die Tiefe ändert sich.
2. Selbstmord? Doch nie hast Du an alle Türen schon angeklopft. (Nach einem Gedicht von Reiner Kunze)
3. „Wann trifft mich endlich der Blitz“, fragte X, der aussah, wie eine Vogelscheuche. Mit ausgebreiteten Armen stand er da auf dem großen weiten Feld, ließ sein trostloses Leben Revue passieren und erwartete den erlösenden Blitzschlag wie einen Ritterschlag. Aber das schwärzeste aller schwarzen Gewitter zog achtlos vorüber und ließ ihn im Regen stehen. Verurteilt zum Weiterleben – auch ein harter Schlag. 
4. Was Du planst, ist nicht was Du machst.

sds19: In welcher Art gestaltest du die „Stadt der Sterblichen” im Sep 2019 in Leipzig mit?

LÜL – Lesenüberleben in der Galerie KUB: „Mit dem Leben hat der Tod nicht gerechnet“. Sieben existenzialistische Märchen von Holger K.

sds19: Wie und in welcher Weise beschäftigst du dich mit dem Tod?

Früher wollte ich sterben, heute hat das noch Zeit. Zu viele Menschen um mich herum gingen verloren, darunter mit 19 Caspar, mein Sohn. Seitdem beschäftigen mich Friedhöfe: Unheimlich viel Lebensgeschichte ist dort konzentriert und fast nichts davon wird greifbar. Der Tod bestraft das Leben mit einem nüchternen Schlussstein. Das darf nicht alles gewesen sein.

sds19: Was bedeutet für dich Endlichkeitskultur?

Realismus. Denn am Ende folgt nichts mehr. Nur im Leben hast Du diese eine Haut, die Dir eine Form gibt und zeitlebens Erfahrung sammelt. Du als Zeiterscheinung, als Zeitsack, der sich füllt und füllt mit Aufs und Abs und als Zeit-Hülle praller, dünner und runzliger wird. Und  jedes neue Auf und Ab macht Dich dicker und reicher in Herz und Kopf. Was davon nach Deinem Tod weiterlebt, ist Fantasy, ist Glauben. Wissen wissen wir alle – NICHTS. Weil am Ende nichts mehr ist außer einem Flash und einem schwarzen Loch. Aber was steckt dahinter? Was ist Alles? Was ist Nichts? Und was bin ich und was bist Du – Alles oder Nichts? Oder alles in Einem? Realistisch: nur eine Zeiterscheinung.

sds19: Warum ist es deines Erachtens notwendig, dass sich jeder mit dem Leben, Sterben und Tod auseinandersetzt?

Alles, was zum Leben dazu gehört, sollte uns beschäftigen, auch das Ziel. Und am Ziel vom Leben steht immer der Tod.

sds19: Was kann man deiner Meinung nach aktiv tun, damit diese Themen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten?

Friedhöfe zum Leben erwecken! Erzählt mehr Geschichten über die Menschen, die dort liegen, macht Kinderexpeditionen zu Gräbern und baut kreative Abenteuer-Spielplätze, die Lebendigkeit auf Friedhöfe bringen, schafft auf jedem Friedhof mindestens ein gemütliches Friedhofcafe mit Philosophietreffs und Lesebühnen, um Lebens-Nachdenklichkeit einen kreativen Raum zu geben, gebt Konzerte auf Friedhofsterrain, die Trauernden ihre Traurigkeit nehmen. Friedhof heißt nicht Friedhofsruhe. Friedhöfe sind Schulen über das Leben an sich.

sds19: Warum ist es wichtig, den Menschen Tod, Sterben und die eigene Endlichkeit näher zu bringen?

Um zu begreifen, was für ein Juwel das Zufallsgeschenk Leben eigentlich ist.

sds19: Hast du Empfehlungen, wie man den einzelnen Individuen in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer, Verlust, Leid, Angst und Schmerz erleichtern kann, um damit einen besseren Umgang pflegen zu können?

Offenen Ohres und Herzens darüber reden, malen, schreiben, musizieren, inszenieren. Aber bloß kein Tabu daraus machen. 

sds19: Wie können Kunst, Kultur und Bildung ihren Beitrag leisten?

Kreative Bannbrecher sein und Brückenbauer zum Sinnieren über Leben und Tod. Aber Wie? Siehe oben.

sds19: Magst du uns Bücher, Filme und/oder Musik zum Thema Leben, Sterben und Tod empfehlen?

1. Jean Paul Sartre, Huis-close. Geschlossene Gesellschaft.
2. Giwi Margwelaschwili, Zwei Ts gegen ein O.
3. Holger K. Vom Weichenstellwerk des Lebens.

sds19: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Mehr Mitmenschen statt Giftmenschen und Mutmenschen statt Wutmenschen.

sds19: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Das A und O einer freien Gesellschaft: Leben ohne Angst vorm Staat, vor Waffennarren oder irgendwelchen Feindbild-Ideologen. Alle haben das Recht und die Chance, sich selbst zu verwirklichen. Aber nie auf Kosten anderer. Nie!

sds19: Welches ist dein Lieblingszitat zum Thema Leben, Schmerz und Tod?

Du sitzt immer in der Scheiße, nur die Tiefe ändert sich. Auf den Spruch stieß ich kurz nach dem Mauerfall in Bitterfeld. Er ist zeitlos wahr geblieben..

sds19: Zum Schluss möchten wir dich noch bitten, folgende 3 Sätze mit deinen eigenen Worten zu ergänzen:

1. Eines Tages werde ich sterben, genau so, wie ich entstanden bin: abrupt und unerwartet, aber mit den Worten von Monty Python im Kopf: “... you come from nothing, you're going back to nothing. What have you lost? Nothing! ...“

2. Unsterblichkeit wäre sterbenslangweilig. Du wirst nie etwas über das größte Geheimnis des Lebens erfahren – den Tod.

3. Das Leben ist 1.) Zufall, 2.) nur einen Buchstaben von „L(i)eben“ entfernt, 3.) der Start vom Sterben. Denn wo immer Dich Dein Leben hinführt, der Tod bleibt das Ziel. Der Weg dahin ist eine Verkleidung der Zeit. Plötzlich da – irre bunt – plötzlich weg, ob als Mensch, Qualle, Bakterium oder Grashalm – Leben ist wie eine Seifenblase. Ploppp!

Auf lange Sicht ist Leben allerdings irrelevant, ein Wimpernschlag im All – aber im erlebten Augenblick: ein irres Geschenk – zufällig entstanden, zufällig zusammengeführt und rasend schnell vorbei. Wichtig ist: keiner lebt allein, jedes Mensch ist selbst ein irrer Kosmos. Und Gott? Gibts einfach nicht. Das ist jeder selbst, der über sein eigenes und über andere Leben entscheiden und Schicksal spielen kann: Es ist ein ewiger Zwiespalt, bist Du im Herzen gut oder böse? Mit-Mensch oder Macht-Mensch? Sei Mut-Mensch! Mach Dein und andere Leben l(i)ebenswert. Allein darauf kommt es an!
 
Holger K. im Frühling 2019.

Ganz lieben Dank für die Beantwortung unserer Fragen