INTERVIEW MIT DAVID GRAY

Rein sprachlich betrachtet, muss man sich ja auch damit abfinden und darauf einlassen, dass Leben rückwärts gelesen Nebel heißt.

sds19: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit, deinem Leben und deiner Lebensphilosophie erzählen.

Mein Problem war lange Zeit, dass ich mir sicher war, es höchstens bis 30 zu schaffen. Das hatte Gründe. Man sucht sich ja auch instinktiv immer den Lebensstil, der einem eigentlich gar nicht steht. Meiner war lange so, dass ich froh war, bereits mit zarten 26 Jahren bei gleich zweien meiner Freunde Briefe mit Anweisungen für den Ablauf meiner Beerdigung hinterlegt zu haben.
(Ja, ich schäme mich inzwischen ob der Musikauswahl, auf der ich damals bestand. Aber „Do not go gentle into that good night“ von Dylan Thomas steht weiterhin auf der Liste von Texten, die gefälligst an meinem Sarg rezitiert werden sollten, falls sich die bucklige Verwandtschaft nach dem Leichenschmaus keinen Besuch meines angesäuerten Geistes einfangen will.)
Als ich wider Erwarten allerdings 35 und schließlich 40 Jahre alt wurde, fiel ich in ein ziemlich tiefes Bedeutungs- und Lebensplanungsloch. Was mich da herauszog, war ein Tag, an dem ich beinahe draufgegangen wäre – dieser Impuls: Scheiße, jetzt doch noch nicht, der da plötzlich in mir aufstieg, hat die erste schmale Stufe heraus aus dem Loch geschlagen. Ich finde, man sollte für einige Bereiche im Leben Motti bzw. Prinzipien haben. Jedoch nicht für das nackte Leben selbst. Außer vielleicht der Überzeugung: Keiner hat das Recht, dir dein Leben zu nehmen. Und, rein sprachlich betrachtet, muss man sich ja auch damit abfinden und darauf einlassen, dass Leben rückwärts gelesen Nebel heißt. Es sind nicht die Gewissheiten, die uns wirklich glücklich machen.  

sds19: Wie und in welcher Weise beschäftigst du dich mit dem Tod?

Um es mal mit zwei sehr berühmten Kollegen von mir zu sagen: „Der Tod ist mein Beruf" (Robert Merle) und „Gefahr ist mein Geschäft“ (Raymond Chandler). Ich bin Krimiautor und verfüge über Restvisitenkartenbestände, auf denen ich meinen Beruf nur halb scherzhaft als „Profikiller“ angebe. Jeden Tag am Schreibtisch setze ich mich mit dem Ende eines oder mehrerer Leben auseinander und mache mir Gedanken darüber, welche Konsequenzen ein solches Lebensende nach sich zieht. Der Tod ist für mich – wie für alle von uns – ein ständiger Begleiter. Doch vielleicht steht er öfter so nah hinter mir, dass ich seine Anwesenheit zu spüren glaube. Ich habe ihn – soweit ich mich erinnere – dennoch nie als „Gevatter“ bezeichnet. Denn das ist er nicht. Der Tod ist nicht unser Verwandter, Kamerad, Freund oder gar Bruder. Jedenfalls nicht per se. Dennoch kann er für Menschen, die sich in unerträglichen Schmerzen wälzen oder in ausweglosen Lagen gefangen sehen, ein Erlöser sein, das muss man ihm zugestehen. Für alle anderen von uns ist er zunächst  eine Unausweichlichkeit.
Deswegen wird er ja in einer Gesellschaft wie unserer, deren Hamsterräder sich nur dann schnell genug drehen, solange ein gewisses Zutrauen in die Zukunft jedes einzelnen aufrechterhalten werden kann, so vehement ignoriert oder verniedlicht.

sds19: Was bedeutet für dich Endlichkeitskultur?

Derzeit sehe ich da ein schon Jahrzehnte andauerndes Problem. Ein Blick auf die derzeit herrschende Populärkultur macht nämlich die gespenstische Ignoranz deutlich, mit der wir dem Tod begegnen.  
In unserem Zeitalter wird Tod vorwiegend in zwei Muster gepresst. Nämlich dient er entweder als Dramageschmacksverstärker oder Drohgebärde. Als Dramageschmacksverstärker wirkt er, wenn er in Romanen, Filmen, Games und Theaterstücken (fiktive) Figuren trifft, deren Sterben entweder den Anfang einer Vergeltungsaktion oder einer Katharsis einläutet.
Das verstellt – meist durchaus kalkuliert – den Blick auf den sachlichten Fakt, dass es gar keinen Trost angesichts von Tod geben kann. Schon weil der nun mal ausnahmslos uns alle trifft. Diese Art der Ausbeutung von Sterben verniedlicht die Endkonsequenz des Lebens, indem es Tod zu einem blassen Rechtfertigungsversuch für Rache oder melodramatische Erlösung herabwürdigt.
Als Drohgebärde funktioniert Tod im ständig größer werdenden Graubereich zwischen Populärkultur und Politik. Einerseits hilft er den Medien dabei, reale Menschen zu Halbgöttern zu erhöhen, deren Ende dann in den Mechanismen der Populärkultur umso hemmungsloser gewinnbringend ausgeschlachtet werden kann. Andererseits dient Tod auch seit Jahrtausenden als Ausgangspunkt für die diversen Formen von Heldenkulten, die in vielen Kulturen (und ich nehme unsere hier da nicht aus) um Machthaber und Kämpfer gestrickt werden. Hier nutzt der Tod als indirekte Drohgebärde der Politik. Die sich dem Andenken der Toten zur Durchsetzung ihrer Ziele bedient, indem sie dazu auffordert, jenes Andenken durch neue Opfer zu ehren. Beide Umgangsmuster könnte man als konsequente Fortführung der Ahnenkultur unserer Vorfahren bezeichnen. Aber beide Muster sind auch bewusst verkürzte Krücken im Umgang mit dem Fakt, dass keiner von uns es lebend aus dem großen wilden Theater der Welt heraus schaffen wird.
Ich glaube, vor nichts hat eine auf Konsum und beständiges Wachstum ausgerichtete Gesellschaft solche Angst wie vor der Unausweichlichkeit des Todes. Daher waren der kapitalistischen Konsumgesellschaft Romantiker auch stets suspekt. Romantiker sind schließlich deshalb Romantiker, weil sie sowohl um das dicke Ende der Wurst (Tofu oder Fleisch!) wie der des Lebens Bescheid wissen und sich nicht scheuen, dies auch offen zu kommunizieren.

sds19: Warum ist es deines Erachtens notwendig, dass sich jeder mit dem Leben, Sterben und Tod auseinandersetzt?

Weil die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit die nötige Voraussetzung dafür darstellt, sich sein profanes bisschen Leben wirklich zu eigen zu machen. Im wilden Herzen der Welt klingeln keine Registrierkassen, habe ich einmal in einem Roman namens „Wolfswechsel“ geschrieben. Doch hin und wieder ertönt dort Musik. Wir können sie ignorieren oder zu ihr tanzen. Ich persönlich bevorzuge den Tanz. Schon deswegen, weil am Ende beide Gruppen – sowohl die regungslosen Zuschauer wie die Tanzenden – stets gebeten werden, für jene Musik zu zahlen. Und zwar mit dem Ende ihres Lebens.

sds19: Was kann man deiner Meinung nach aktiv tun, damit diese Themen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten? Warum ist es wichtig, den Menschen Tod, Sterben und die eigene Endlichkeit näher zu bringen?

Wir alle sollten einfach aufhören, uns etwas vorzumachen: Der Tod kommt. Für jeden. Punkt. Der Trick besteht darin, sich vor dem Tod etwas vom Leben genommen zu haben. Möglichst ohne dabei daran draufzugehen. Wem das nicht klar ist, der läuft Gefahr, sein Leben auf eine ziemlich triste Art zu verschwenden.
(Interviewter wirft bereitwillig fünf Euro ins Phrasenschwein)  

sds19: Hast du Empfehlungen, wie man den einzelnen Individuen in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer, Verlust, Leid, Angst und Schmerz erleichtern kann, um damit einen besseren Umgang pflegen zu können?

Als Künstler hast du es relativ leicht, etwas dafür zu tun, die Ignoranzkultur um den Tod zu beenden. Du kannst ihn in deinen Werken bearbeiten und dich dabei so gut es geht bemühen, dies ohne falschen Glamour zu tun. Das gilt nicht nur für den Umgang mit dem Thema Tod, sondern auch für andere aus Zeitgeistgründen unterrepräsentierte Probleme. Du solltest dabei nur darauf achten, dich nicht zu einem Hofnarren des Todes herabzuwürdigen. Denn davon gibt es schon zu viele. Das fängt bei Beatrix von Stroh und ihren absichtlichen Mausausrutschern in Zusammenhang mit Schießbefehlen an und endet längst noch nicht bei den Skriptschreibern von Hollywoodfilmen, die nebenbei über den Haufen geknallte Komparsen als Comedyelement in Actionfilme einschreiben. (Ein Soldat wird im Gefechtsfall innerhalb der Fachsprache der Bundeswehr als „Weichziel“ bezeichnet. Noch so eine sprachliche Vergewaltigung über die es sich mal tiefer nachzudenken lohnt.)
Allen, die nicht das Glück haben, ihr Überleben durch Kunst sichern zu können, rate ich nur darüber zu reden, dass das Leben endlich ist, aber, dass es befreiend sein kann, sich genau dies bewusst zu machen.

sds19: Wie können Kunst, Kultur und Bildung ihren Beitrag leisten?

Siehe oben. Nur vielleicht mit dem Zusatz, dass jene Hoffnarren des Todes zunehmend raffinierter agieren. Und man sich doch bitte schön gefälligst bemühen sollte, ihnen nicht in die Falle zu gehen.
Die meiner Meinung nach gefährlichste Form der Hofnarren des Todes kommt in der Tarnung von Leuten einher, die behaupten, dass das dicke Ende des Lebens nicht in Tod, sondern einer einmalig verliehenen Haltungsnote und der anschließenden Belohnung für mehr oder gutes Lebensbetragen bestünde. (Wobei der Belohnung selbstverständlich auch ein Gegenstück in Form von Strafe für schlechte Haltung und mieses Betragen zur Seite gestellt wurde. In unseren katholisch/evangelischen Breiten wird das gern als Hölle bezeichnet.) Genau diese Endbelohnung per Haltungsnotendurchschnitt verheißt jede der großen Weltreligionen ihren Anhängern. Aber die Nestwärme, die der Glauben an höhere Mächte verheißt, ist bloß oberflächlich anheimelnd. Sich am – zweifellos meist grob nützlichen –  moralischen Treppengeländer einer Religion entlang durchs Leben zu hangeln, bedeutet, sich dafür entschieden zu haben, die Gebote dieser Religion achten und ehren zu wollen. Was einschließt, auf jene Dinge, die diese Religionsgebote verbieten, für die eigene Lebensführung verzichten zu müssen. Solange diese Verbote sich auf so unsoziale Tätigkeiten wie Mord, Diebstahl oder Betrug beziehen, ist das problemfrei und entspricht den universellen Werten der Menschlichkeit.
Schwieriger wird es, sobald die Entscheidung für jene Religion bedeutet, sich zugleich gegen solch durchaus wirksame Lebenströster wie selbstbestimmten Sex oder das immense Abenteuer von breitgefächerter Bildung entscheiden zu müssen. Noch um einige Skalengrade verwerflicher wird Religiosität, falls sie Menschen in eine Situation dirigiert, in der sie gezwungen werden, den Wert eines Leben gegen den eines anderen aufwiegen zu sollen.

sds19: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Unser bedeutendstes europäisches Erbe ist der Geist der Aufklärung. Die geht jetzt schon länger nicht mehr als Teenager unter den Menschheitsprojekten durch und hat sich auch schon mal über holperige Nebenstraßen und in moralische Moräste leiten lassen. Wovon die Guillotinen, die man in verschiedenen französischen Museen besichtigen kann, ein beredtes Zeugnis ablegen. Deren Schneiden fielen ja nicht nur auf vielleicht korrupte und ausbeuterische  Adelige, sondern auch auf die Hälse von Menschen, die völlig unschuldig waren oder sich gegen Zensur und für Gedankenfreiheit einsetzten.
Dennoch sind Aufklärung und Vernunft das Erbe, dem wir in diesem Teil der Welt uns am meisten verpflichtet sehen sollten. Denn sie standen am Anfang des Freiheitsbegriffs.
Zwar werkeln aktuell weiterhin Tausende von Linguisten, Philosophen und Rechtsgelehrte heftigst daran herum, was zum Geier dieser Freiheitsbegriff eigentlich beinhalten soll. Aber, dass es zu viele hochbegabte Menschen gibt, die in Bullshitjobs arbeiten, ist wohl für keinen mehr eine ganz große Überraschung.
Nach Voltaire, Kant, de Sade, Nietzsche, Foucault, Camus und diversen weiteren hochgeschätzten Männern, die sich im Laufe der Jahrhunderte mit dem Problem auseinandersetzten, war es eine Frau namens Margaret Atwood, die das Problem zumindest für den durchschnittlich bis überdurchschnittlich gebildeten Hausgebrauch ausreichend auf den Nagel traf. Denn sie bestand auf dem sehr feinen, aber signifikanten Unterschied, dass sowohl Freiheit für etwas existiere wie Freiheit gegen etwas.
Es liegt schließlich in unser aller freien Willen, uns für eine bestimmte Art der Religiosität oder den Unglauben zu entscheiden, wie es in unserem freien Willen liegt, uns auch jeweils gegen eines der beiden Konzepte zu stellen.
Du kannst die schwarz-rote Eistüte bestellen und dich dazu in die Reihen des Papstes einsortieren. Oder du kannst dich für die Aluhut-silberne Eistüte entscheiden und mit Tom Cruise und anderen Scientologen auf die baldige Niederkunft von uns mondhoch überlegenen Aliens setzen, die dir dann in einem ihrer Raumschiffe hoffentlich einen Platz in der ersten Reihe beim Spektakel der prophezeiten Apokalypse reservieren.  
Es steht dir allerdings eben auch genauso frei, dich nach reiflicher Überlegung für mit dem etwas weniger anheimelnden Ideenkonzept anzufreunden und einzusehen, dass in mindestens einem Extremfall Gewissheiten eben doch glücklicher machen. Denn erst das Bewusstsein um die Endgültigkeit des Todes macht das Leben so kostbar, dass man sich motiviert sieht, möglichst wenig davon an Schwachsinn zu vergeuden. Ich wünschte mir, dass dies noch mehr von uns einsehen wollten und danach handeln.

sds19: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Sie bedeuten nicht nur, aber auch, eine halbwegs verlässliche Garantie dafür, dass ich mein bisschen endlichen Lebens so verbringen kann, wie es mir passt, ohne gezwungen zu sein, es einer fiktiven höheren Macht gegenüber rechtfertigen zu müssen. Das ist schon nicht ganz wenig.

sds19: Welches ist dein Lieblingszitat zum Thema Leben, Schmerz und Tod?

„Der Mensch ist ein schönes, böses Tier“. Das stammt von einem der ganz großen Aufklärer, nämlich dem Marquis de Sade, der zwar nach allem, was man über ihn weiß, ein ziemliches Arschloch war, aber sich – ja, vielleicht gerade deswegen – in Bezug auf die dunkleren Seiten der Natur des Menschen nichts bis gar nichts mehr vormachen ließ. Man sollte sich dessen bewusst bleiben: Die Güte, die Schönheit, das Mitleid, dessen man gewahr wird, sind endliche Ressourcen, wie Batterien müssen sie hin und wieder mit Träumen und Zuwendungen aufgeladen werden, um den dunklen Teil in uns im Zaum zu halten.

sds19: Zum Schluss möchten wir dich noch bitten, folgende 3 Sätze mit deinen eigenen Worten zu ergänzen:

1. Eines Tages werde ich sterben … und dagegen kann ich nichts tun.

2. Unsterblichkeit wäre … eine Zumutung. Wie wöllte man das denn auch seinen Erben gegenüber rechtfertigen? Die setzen doch drauf, dass sie zu einem Erbe kommen, dass sie möglichst erfahrungsfördernd verschwenden können.

3. Das Leben ist … keine Weißwurstbude. Aber zum Glück auch nicht nur ein Trauerspiel.  

Ganz lieben Dank für die Beantwortung unserer Fragen