INTERVIEW MIT ALEXANDRA FRIEDMANN

Ich lernte den Schmerz kennen, den man empfindet, wenn man dieses „nie wieder“ denkt. Und ich lernte, dass man ihn zulassen muss, um loslassen zu können.

sds19: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit, deinem Leben und deiner Lebensphilosophie erzählen.

Schreiben ist für mich eine Berufung und mein persönlicher Herzensweg.
Schon in der Grundschule schrieb ich am liebsten Aufsätze und Geschichten, später versuchte ich mich an Lyrik und begann mit Mitte zwanzig die Arbeit an meinem ersten Roman. Meine Bücher beschäftigen sich mit Themen, die mich persönlich tief bewegen. Diese Freiheit, meinen inneren Impulsen folgen zu können, liebe ich an meiner Arbeit besonders. Meine Aufgabe als Romanautorin sehe ich darin, das eigene Erfühlte in Geschichten zu „übersetzen“. Dieser Prozess kann auch sehr heilsam sein. Natürlich freut es mich, wenn der Leser daran teilhat und vielleicht sogar etwas von sich selbst in den Geschichten wiederfindet.           

sds19: In welcher Art gestaltest du die „Stadt der Sterblichen” im Sep 2019 in Leipzig mit?

Ich werde aus meinem Roman „Sterben für Anfänger oder Rafik Shulmans erstaunliche Reise ins Leben“ lesen. (Die Lesung findet am 15.09.2019 um 17:00 im Café Salomon statt.)

sds19: Wie und in welcher Weise beschäftigst du dich mit dem Tod?

Das Thema Tod und Sterben wirft uns unweigerlich auf die großen Sinnfragen zurück: Warum leben wir? Haben wir eine Seele? Was geschieht, wenn wir sterben? Gibt es ein Jenseits? Gibt es Gott? Spätestens wenn wir jemanden verlieren, müssen wir sie stellen.
In meinem Fall war es der Verlust meiner Großmutter. Sie stand mir sehr nahe, und als sie starb, habe ich zum ersten Mal im Leben bewusst getrauert. Ich lernte den Schmerz kennen, den man empfindet, wenn man dieses „nie wieder“ denkt. Und ich lernte, dass man ihn zulassen muss, um loslassen zu können.
Seit etwa sechs Jahren beschäftige ich mich zudem intensiv mit philosophischen, religiösen und spirituellen Fragen. Besonders interessiert mich, was jenseits von Traditionen, Dogmen und kulturellen Filtern erfahrbar und erfühlbar ist. Heute glaube ich, dass wir geistige Wesen sind und dass die meisten von uns schon viele Leben auf der Erde gelebt haben. Das ist natürlich meine eigene, intime Wahrheit, und ich versuche, offen zu bleiben und mich nicht auf Konzepte zu versteifen. Vor meinem eigenen Tod habe ich mich interessanterweise noch nie gefürchtet – da war immer ein Urvertrauen, als wüsste ich, dass es sich nur um einen Übergang handelt.    

sds19: Was bedeutet für dich Endlichkeitskultur?

Eine blühende Endlichkeitskultur wäre für mich ein entspannter, natürlicher Umgang mit Themen wie Sterben, Vergänglichkeit und Tod. Die Realität sieht anders aus, und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Zum einen leben wir in einer kapitalistischen Gesellschaft, die das Neue, Schöne, Junge und Gesunde verherrlicht. Wenn etwas kaputtgeht, einen Riss bekommt, seine Perfektion einbüßt, sollen wir es wegwerfen und durch das aktuelle Modell ersetzten. Auch der eigene Körper soll so lange wie möglich unverändert, fest und glatt bleiben. Weil das ein Ding der Unmöglichkeit ist, leiden wir. Der einzige Ausweg aus diesem Leid führt von der glänzenden Oberfläche in die Tiefe unseres Wesens – und hier stoßen wir erneut auf ein kulturelles Hindernis. Im Zuge der Industrialisierung haben wir ganz zurecht dogmatische Religionspraxis und alten, eingefahrenen Aberglauben durch Wissenschaftlichkeit, Rationalität und empirisches Beweisbarkeitsdenken ersetzt. In vielen Bereichen ist das notwendig und sehr hilfreich gewesen. Und doch haben wir das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn in einer materialistischen Gesellschaft wie der unseren bleibt wenig Raum für die Mysterien des Lebens, für die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit unseres Körpers und der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele.                    

sds19: Warum ist es deines Erachtens notwendig, dass sich jeder mit dem Leben, Sterben und Tod auseinandersetzt?

Die Frage ist ja, warum viele Menschen es nicht tun. Es gäbe keinen Grund, sich nicht damit zu beschäftigen, denn jeder weiß ja um seine eigene Sterblichkeit. Mehr noch, wir wissen im Grunde, dass wir keinerlei Kontrolle über unser Sterben und das Sterben unserer Liebsten haben – es könnte in jedem Augenblick geschehen. Das Thema ist allgegenwärtig – warum drücken wir uns also davor? Die Antwort ist natürlich Angst. Wir fürchten uns so sehr, dass wir es lieber verdrängen.
Doch alles, was wir mit viel Energieaufwand unterdrücken, wird früher oder später an die Oberfläche gespült. Wenn wir jemanden verlieren, können wir lernen, Trauer anzunehmen und loszulassen. Und vielleicht verlieren wir am Ende sogar unsere Angst. So kann ein Verlust Heilung bringen, eine Krankheit Erkenntnis, ein großer Schmerz innere Freiheit.    
 
sds19: Was kann man deiner Meinung nach aktiv tun, damit diese Themen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten?

Man kann sich weigern, das Thema totzuschweigen. Darüber sprechen, oder, wie in meinem Fall, darüber schreiben. „Sterben für Anfänger“ entstand auch mit der Intention, ein Tabuthema ans Licht zu zerren und so den ein oder anderen bei seinem eigenen Bewusstwerdungsprozess zu unterstützen. Die gute Prise Humor in dem Buch ist auch kein Zufall, das nimmt die Angst und zeigt, dass der Tod nicht immer todtraurig sein muss.    
Natürlich ist Stadt der Sterblichen auch eine wunderbare Möglichkeit, diese Themen in die Mitte der Gesellschaft zu bringen, und ich habe mich sehr gefreut, als ich davon erfahren habe.

sds19: Warum ist es wichtig, den Menschen Tod, Sterben und die eigene Endlichkeit näher zu bringen?

Weil es Menschen potentiell von ihren tiefsten Ängsten befreien kann. Natürlich muss jeder Einzelne bereit dafür sein.
Seitdem „Sterben für Anfänger“ erschienen ist, höre ich von Menschen immer öfter, dass sie sich davor fürchten, das Buch zu lesen. Obwohl es eine fiktive Geschichte ist, ist die Blockade groß. Doch ich glaube, dass der Umgang mit unseren Ängsten direkten Einfluss darauf hat, wie wir leben. Angst war noch nie ein guter Berater. Und am Ende geht es um eine ganze Lebenseinstellung: ziehen wir uns in unser Scheckenhaus zurück oder verlassen wir die Komfortzone, um ein mutiges, lebendiges Leben zu führen?    

sds19: Hast du Empfehlungen, wie man den einzelnen Individuen in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer, Verlust, Leid, Angst und Schmerz erleichtern kann, um damit einen besseren Umgang pflegen zu können?
Wie können Kunst, Kultur und Bildung ihren Beitrag leisten?

Man kann niemandem etwas aufzwingen. Doch wenn Menschen sich auf die Suche begeben, nach Hilfe, einem Ausweg aus dem Schmerz, nach Antworten, ist es von hohem Wert, wenn sie auf andere Menschen treffen, die diesen Weg kennen. Das bedeutet nicht, dass jeder Weg gleich ist. Viel wichtiger ist es, zu sehen, dass man nicht allein ist mit seinem Schmerz, seinen Zweifeln und Ängsten ist – dass diese Dinge zur menschlichen Erfahrung gehören und dass es andere gibt, die sie durchlebt und überwunden haben. Darum finde ich es so wichtig, die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Erkenntnisse zu teilen. Die Kunst ist ein Vehikel dafür, und es gibt sicher andere. Sie müssen nur genutzt werden von Menschen, die bereit sind, ihre Geschichten und Erfahrungsschätze zu teilen.

sds19: Magst du uns Bücher, Filme und/oder Musik zum Thema Leben, Sterben und Tod empfehlen?

Ich habe viel dazu recherchiert. Zum Beispiel Sachliteratur zum Thema Trauer von der bekannten Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Der Film Living Buddha von Clemens Kuby hat mich dazu inspiriert, mich näher mit Themen wie Wiedergeburt und Jenseits zu beschäftigen.
Ich las auch Bücher wie „Dienstags bei Morrie“, das sehr lebensnahe und gleichzeitig sehr philosophisch ist.

sds19: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Nüchtern betrachtet sieht es ja eher düster aus mit unserem Erbe. Doch wie es wirklich weitergeht, wissen wir nicht. Ich glaube, dass die Welt, in der wir leben, ein Spiegel unseres Bewusstseins ist. Wenn das Bewusstsein sich verändert, wird die Wirklichkeit sich daran anpassen. Natürlich muss jeder bei sich selbst anfangen. Ich kann weder die Welt noch das menschliche Miteinander verbessern, wenn ich mich nicht mit meinem eigenen Schatten auseinandergesetzt habe. Tue ich es aber, kann ich andere dazu anstoßen, es auch zu tun, nicht durch Gewalt, nur durch mein Beispiel. Das ist vielleicht die einzige Chance, die wir haben.     

sds19: Welches ist dein Lieblingszitat zum Thema Leben, Schmerz und Tod?

„There is a crack in everything, that’s how the light gets in…“ von Leonard Cohen

sds19: Zum Schluss möchten wir dich noch bitten, folgende 3 Sätze mit deinen eigenen Worten zu ergänzen:

1. Eines Tages werde ich sterben, und ich bin gespannt, was dann passiert.  

2. Unsterblichkeit (des Körpers) wäre ein Fluch, weil sie uns die Möglichkeit nehmen würde, uns zu erneuern.

3. Das Leben ist überall.