INTERVIEW MIT NICHOLAS MÜLLER

Frauen und Männer müssen gleichermaßen traurig sein können und ja, auch gleichermaßen schwach für den Moment.

sds19: Magst du unseren Leser*innen kurz von deiner Arbeit, deinem Leben und deiner Lebensphilosophie erzählen.

Ich bin Autor und Musiker. Oder Musiker und Autor, da bin ich mir selber oft gar nicht so sicher. Ich mag Musik und Bücher und am meisten mag ich es wohl, über Menschen nachzudenken und herauszufinden, warum sie Dinge tun oder lassen. Da lag die
Berufswahl nah, insbesondere auch, weil ich sonst echt nix so richtig kann. Das finde ich aber gar nicht schlimm.
Ich bin in der Eifel aufgewachsen, in einem Sechshundertundeinpaarzerquetschte-Seelen-Nest an der Grenze zu Luxemburg, in einem vier-Generationen-Haus mit insgesamt acht Menschen, von den Urgroßeltern bis zu mir. Zusammensein und Menschliches in jeder Ausprägung waren allgegenwärtig und völlig normal, deswegen wusste ich auch schon echt früh, dass so ein Leben nix mit Stringenz zu tun hat und Alltag das ist, was passiert und nicht immer das, was man gerne daraus machen würde. Eben auch sterben, eben auch krank sein. Von den Achten sind seit dreizehn Jahren nur noch drei übrig. So viele Zahlen.
Es könnte jede Sekunde vorbei sein, also nutze ich stets die jetzige. Manchmal auch nur fürs Atmen, weils nicht immer der richtige Zeitpunkt für mehr ist. Das muss wohl auch menschlich sein. Ich habs eh nicht so mit Planung und genau das macht mich oft rammdösig.

sds19: In welcher Art gestaltest du die „Stadt der Sterblichen” im Sep 2019 in Leipzig mit?

Als Gast bei der „Talkshow des Todes“, mit dem hochgeschätzten Markus Kavka, mit dem ich für „Freunde fürs Leben“ schon über Depressionen und das hinein und heraus sprechen durfte, mit Eric Wrede, dessen Buch ich gefressen habe, und Jennifer Sonntag, über die ich noch nicht allzuviel weiß, was ich aber sehr gerne ändern werde. Spitze!

sds19: Wie und in welcher Weise beschäftigst du dich mit dem Tod?

Ich beschäftige mich eingehender und viel öfter mit dem Tod als mir eigentlich lieb ist. Ich glaube, ich bin für jede Situation gefeit, die nicht unabänderlich ist. Mich wirft so schnell nix um, seien es Krankheiten, Existenzfragen, Unwegsamkeiten. Dann habe ich aber auch wieder ein echt großes Problem mit Kontrollverlust und der Tod stellt nun mal den ultimativen Kontrollverlust dar, weil ja keiner sagen kann, ob danach irgendwas kommt und wenn ja, was das dann sein soll. Das stört mich brutal.
Ich habe viele Jahre mit Panikattacken und einer massiven Angststörung gerungen, die ich mittlerweile sehr gut im Griff habe. Während einer Panik ist der Tod immer der absolute Endgegner, denn die Symptome, die so ein Körper dann ausspuckt, künden immer vom Sterben. Seitdem mich die Panik nur noch extrem selten erwischt, macht mir eher Sorgen, dass meine fünfjährige Tochter verstehen müsste, dass ich gestorben bin. Und das will ich mir nicht vorstellen, das ist so ein widerlicher Gedanke. Deswegen solls so lange, wie irgendmöglich dauern, bis es passiert. Man könnte sagen, dass ich an einem Punkt in meinem Leben bin, an dem ich den Tod wirklich echt scheiße finde. Ich glaube und hoffe, das wird sich so schnell nicht ändern.

sds19: Was bedeutet für dich Endlichkeitskultur?

In unseren Breiten was ganz düsteres. Das ständige Bewusstsein der Sterblichkeit und die damit verbundene Hilflosigkeit. Das ist so destruktiv. Und selbst die Konsequenz, deswegen stets aus der eigenen Lebenszeit das Beste herauszuholen, ist meistens so schlimm getrieben. Ich bewundere Kulturen, in denen der Tod einen anderen Stellenwert erfährt und tatsächlich nur ein Teil des Lebens ist und deswegen gefeiert wird. Das muss sehr versöhnlich sein. Und entspannend.

sds19: Warum ist es deines Erachtens notwendig, dass sich jeder mit dem Leben, Sterben und Tod auseinandersetzt?

Weils das einzige ist, was wir alle tun, was wir alle können und was wir alle müssen. Leben bis zu einem gewissen Punkt, sterben ab diesem Punkt, tot sein für immer. Darin könnten wir uns einen und verstehen. In all den damit verbundenen Fragen und Handlungen. Das hat sowas Universelles und ist irgendwie die Essenz des Menschseins. Alles, was davor, dazwischen und dahinter liegt, werden wir wohl niemals überein bekommen.

sds19: Was kann man deiner Meinung nach aktiv tun, damit diese Themen stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten? Warum ist es wichtig, den Menschen Tod, Sterben und die eigene Endlichkeit näher zu bringen?

Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, ob man den Tod noch näher an den Menschen heranrücken muss. Den trägt man doch eh permanent wie einen Schatten mit sich herum, sobald man wahrnimmt, dass es ihn gibt. Wichtig ist der Umgang mit genau diesem Schatten. Man verpasst so viel, wenn man nicht erwartet, dass mans erleben kann. Ich habe zu oft die Hilflosigkeit im Blick Todkranker gesehen, das ist etwas ganz Tragisches.
Alleine dafür würde sich ein achtsamer und bewusster Umgang mit dem Tod lohnen.
Darüber gilt es sich auch nicht zu streiten und ihn im Rahmen eigener Weltanschauung oder religiöser Überzeugung noch weiter zum Dämon zu machen. Macht den Tod begreifbar, betrachtet ihn nüchtern. Wie das geht? Ich bin mir überhaupt nicht sicher.

sds19: Hast du Empfehlungen, wie man den einzelnen Individuen in unserer Gesellschaft den Umgang mit Trauer, Verlust, Leid, Angst und Schmerz erleichtern kann, um damit einen besseren Umgang pflegen zu können? Wie können Kunst, Kultur und Bildung ihren Beitrag leisten?

Machen wir uns nix vor, es gibt nichts Ekelhafteres als diese Dinge. Die können ein Weltbild nicht bloß erschüttern, sie schaffen es, eine komplette Welt einzutreten und kurz und klein zu hauen; dementsprechend wird es für niemanden jemals einfach werden, damit umzugehen. Einfacher kann es aber sein.
Zunächst einmal müssen wir jedem Menschen bedingungslos seinen Grad an Trauer, Leid, Angst und Schmerz zugestehen. Dafür gibt es kein universelles Maß und keine Richterskala. Es ist nichts anderes als großkotzig und hybrid, wenn man das bewerten möchte. Hier dürfen auch keine Geschlechterbilder bemüht werden. Frauen und Männer müssen gleichermaßen traurig sein können und ja, auch gleichermaßen schwach für den Moment. Immer stark zu sein, nutzt eine Seele derart ab. Man muss hemmungslos trauern dürfen. Meine eigene Erfahrung zeigt, dass eine verschleppte und unterdrückte Trauer, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln auch immer, so lange für Pein und Elend sorgt, bis sie endlich da sein und ihren Dienst tun darf. Da lässt man ihr doch besser unmittelbar ihren Raum. Das ist so menschlich und so völlig und endlos in Ordnung. Jeder Mensch sollte zu jedem Zeitpunkt das Recht haben dürfen, für einen Moment der traurigste Mensch der Welt zu sein.
Allen wäre also geholfen, wenn Kunst, Kultur und Bildung sich einig würden, keine Bewertungen mehr auszusprechen. Trauer nicht mehr an die große Glocke zu hängen, sondern das Normale darin zu berichten und zu beschreiben. Das würde die Empathie in ihrer wichtigen Arbeit unterstützen.

sds19: Magst du uns Bücher, Filme und/oder Musik zum Thema Leben, Sterben und Tod empfehlen?

Es geht ja in jeder Kunstform immer irgendwie um Liebe und Tod und alles, was dazwischen liegt, ist nur auf dem Weg zu einer der beiden Säulen. Deswegen könnte eine solche Liste jetzt echt lang werden, aber irgendwie fällt mir zuallererst das Buch „Skippy stirbt“ von Paul Murray ein. Da gehts um alles Mögliche und gar nicht mal hauptsächlich um den Tod. Wie dieser da aber gehandelt und damit umgegangen wird, ist absolut spitze und beeindruckend. Mein Filmwissen ist unterirdisch, aber was mich schon als Jugendlicher nachhaltigst geprägt und mit dem Thema vertraut gemacht hat, ist wohl „Der
Club der toten Dichter“. Musik? Meine komplette Plattensammlung! Und die ist riesig und Weltlkasse! ;)

sds19: Was ist unser Erbe, was ist unsere Zukunft? Was wünschst du dir für ein besseres menschliches Miteinander?

Unser Erbe ist und bleibt das Menschsein. Das haben wir bekommen, das geben wir weiter und deswegen ist es auch unsere Zukunft. Und irgendwie schafft es der Mensch als Spezies seit der ersten Sekunde, das nicht zu verstehen. Wie kann das sein? Alles Destruktive gründet doch immer darauf, dass eigentlich etwas Besonderes entstehen soll.
Besonderes Wissen, besondere Macht, besondere Überragenheit. Und da ist es immer besonders traurig, wenn wir vergessen, dass wir unterm Strich alle zuerst mal ein Haufen glücklich zusammengewürfelter Knochen, Muskeln und Organe mit Haut drüber sind.
Vielleicht verstehen wir irgendwann, dass damit alles schon gewonnen ist und darüber hinaus nur noch verloren werden kann.

sds19: Was bedeuten für dich Freiheit, Schutz der Menschenwürde und Gleichberechtigung?

Alles bedeutet das für mich und es bedeutet mir alles. Das heißt nicht, dass ich diese Disziplinen immer problemlos meistern würde. Ich finde, jedem Menschen sollte ermöglicht werden, sein Leben so zu führen, wie er es für richtig hält. Ob Glaube, Sexualität, von mir aus auch Politik, was auch immer. Die jeweiligen Themen finde ich eigentlich so unerheblich, wie sie wiederum auch dringend persönlichkeitsbildend ist. Ich finde aber auch, dass jeder Mensch sein Leben so führen sollte, dass dabei kein anderer Mensch gefährdet oder verletzt oder eingeschränkt wird. Sei es physisch oder psychisch.
Und hier krankt dieser fromme Wunsch erheblich. Das ist nunmal nicht umsetzbar und gerade deshalb muss alles daran gesetzt werden, die Würde des Menschen und damit auch seine Gleichberechtigung und seine Freiheit unter absoluten Schutz zu stellen. Für mich bedeutet das seit jeher wahnsinnig ermüdende Diskussionen mit Fanatikern, Homophoben und Faschos und mittlerweile leider auch echt häufig die Bereitschaft, für derartigen Bullshit kein Verständnis mehr aufzubringen. Ich erkenne das als aktive Handlung und das macht mir hier und da Sorgen um mich selbst. Ich will nicht mehr über Selbstverständlichkeiten und eben bloßes Menschsein verhandeln müssen. Das sollte alles selbstverständlich sein.

sds19: Welches ist dein Lieblingszitat zum Thema Leben, Schmerz und Tod?

„If death meant just leaving the stage long enough to change costume and come back as a new character, would you slow down? Or speed up?“ (Chuck Palahniuk)

sds19: Zum Schluss möchten wir dich noch bitten, folgende 3 Sätze mit deinen eigenen Worten zu ergänzen:

1. Eines Tages werde ich sterben
und je mehr ich darüber nachdenke, je bewusster mir das wird, umso weniger Bock habe ich darauf.

2. Unsterblichkeit wäre
auch keine Alternative, solange die Menschen, die ich liebe nicht auch unsterblich wären.

3. Das Leben ist
das große Semikolon und erst vorbei, wenns wirklich vorbei ist.